Der Kasseler Hofkapellmeister Louis Spohr als Kammermusiker und Lehrer:
Musik und Humanitas

Prof. Dr. Hartmut Broszinski, Kassel

Festvortrag am 12. Juli 2002
anläßlich der Jahrestagung der Forschungsloge Quatuor Coronati in Kassel

Konzert mit dem Duo Lendle (Klavier und Geige)

Kassel ist eine Stadt mit kulturellen Traditionen: Die Gemäldegalerie der Alten Meister im Schloß Wilhelmshöhe gehört zu den bedeutendsten in Deutschland und ist mit Abstand die am schönsten gelegene, Zahl und Qualität der vielen anderen Museen würden für mehrere Großstädte reichen, die documenta setzt weltweit Akzente.

Um auf die Musik zu kommen: Wir rühmen uns des ältesten Orchesters in Deutschland: - 500 Jahre wird es heuer alt -, die Kasseler Opernaufführungen erregen Aufsehen und sind gelegentlich so provokativ, wie es Theater sein muß, indem sie massive Proteste auslösen und ebenso lebhaften Beifall finden. Nichts für schwache Nerven.

Eine besondere Perle im Diadem ist die Kammermusik, die hier in ungewöhnlicher Dichte betrieben wird. Da ist zum einen die hohe Zahl qualifizierter Laien? Streichquartette und Klaviertrios, zum anderen das Engagement der Orchestermusiker außerhalb des normalen Dienstes. Mehrere Streichquartette, Klaviertrios, Bläservereinigungen, gemischte Besetzungen, ein exquisites Schlagzeugensemble, Sonatenabende mit Klavierbegleitung.

Daß dieses freiwillige Interesse der Musiker von den Generalmusikdirektoren gern gesehen wird, hat hierzulande eine lange Tradition und einen guten Grund: Ein Instrumentalist, der Kammermusik macht, kann unter Seinesgleichen nur bestehen, wenn er am Ton, an der Intonation, an Ausdruck und Zusammenspiel arbeitet. Er wächst bei jeder Kammermusik ein Stück, und mit ihm wächst hernach das Orchester. Das wußte vor 500 Jahren Landgraf Philipp, wenn er gelegentlich seine Musiker zur Kammermusik an andere Höfe verlieh, das wußte mutatis mutandis der hochmusikalische Landgraf Moritz vor 400 Jahren, wenn er sie in Venedig ausbilden ließ, das wußte Landgraf Karl, der Erbauer von Herkules, Orangerie und Marmorbad vor 300 Jahren, als er seinen Hofkapellmeister an den Berliner Hof zum Musizieren schickte. Und das wußte, um nun endlich zur Sache zu kommen, unser Kasseler Glücksfall, der Hofkapellmeister Louis Spohr (Lebensdaten: 1784-1859), der von 1822 bis zu seiner Pensionierung 1857, also volle 35 Jahre, in Kassel als Dirigent, Geiger, Komponist und Lehrer wirkte.

Vor allem die ersten knapp 10 Jahre unter Kurfürst Wilhelm II. mehrten seinen Ruhm als neben Paganini führendem Geiger seiner Zeit, brachten ihm einzigartige Erfolge als Dirigent und Komponist überall in Deutschland und England und machten ihn in halb Europa zur höchsten Autorität in allen Belangen der Musik. Seine Opern, Sinfonien und Solokonzerte und die Kammermusik beherrschten allerorten die Programme. Dazu kam sein pädagogisches Talent, über das noch zu reden sein wird.

Fangen wie beim Meister selbst an, Spohrs Wirken als Komponist und Spieler von Kammermusik in seiner Kasseler Zeit. Im Mittelpunkt seines kammermusikalischen Schaffens stand das Streichquartett. 36 Streichquartette hat er geschrieben, davon die Hälfte hier. Von den Quintetten, Sextetten und Oktetten entstanden fast alle in Kassel, darunter die meisterlichen vier Doppelquartette für Streicher, dazu die fünf Klaviertrios, eine Besetzung wie gemacht für den biedermeierlichen Salon, in dem sie dann auch erklangen.

Dabei machten es ihm die Kurfürsten schwer, ausgerechnet an seinem Dienstort Kassel eine offiziell geförderte oder auch nur geduldete Kammermusiktradition parallel neben der von Staats wegen verordneten Tätigkeit an der Oper zu etablieren. Unter großen Schwierigkeiten gelang es ihm, Abonnementskonzerte mit dem Orchester zu inaugurieren. Kurfürst Friedrich Wilhelm I., seit 1831 Landesherr, fürchtete die Konkurrenz eines eigenständigen Konzertbetriebes, argwöhnte liberale Tendenzen - nicht zu Unrecht - bei solchem Tun, das sich ja staatlicher Einflußnahme entzogen hätte: Im Glanz einer Opernaufführung konnte sich der Herrscher sonnen, beim Streichquartettspiel wäre er überflüssig. Spohr wurde obstinat und flüchtete oft in bewilligte und nicht bewilligte Konzertreisen; 1851 wünschte er in einem Brief an einen englischen Freund ",... daß das deutsche Volk nochmals seine Ketten abwirft und seine demoralisierten Fürsten zum Lande hinausjagt!"

So beschränkte er sich in Kassel auf Soireen im eigenen Hause und bei befreundeten Familien, etwa im Stadthaus des Oberhofmarschalls Wilhelm Otto von der Malsburg, beim späteren Oberbürgermeister Friedrich Nebelthau und beim kunstsinnigen Tapetenfabrikanten Carl Heinrich Arnold. Gespielt wurden neben dem eigenen Œuvre Haydn, Mozart, Beethoven, Mendelssohn, Chopin und Schumann. Interpreten waren natürlich er mit der Geige, seine Frau Dorette, eine vorzügliche Harfenistin und Pianistin, waren Orchesterkollegen, Schüler, die sich hier ihre ersten Sporen verdienen mußten. Man spielte reihum allwöchentlich bei den musikliebenden Familien, jedes Mal standen drei Quartette auf dem Programm, worauf - so Spohr in seinen Memoiren",... die Abende mit einem frugalen Mahle beschlossen wurden."

Keine Frage - während seiner zahlreichen Tourneen und bei dieser Kammermusikpflege fand er recht eigentlich sein künstlerisches Selbst. Daß sich heute nur wenige dieser Werke noch im Konzertsaal und vor allem in der Hausmusik gehalten haben, liegt zum einen an der meist unerhört schwierigen 1. Violine: Er hatte über seiner phänomenalen Geigentechnik jeden Maßstab verloren. Ein zweiter Grund ist seine merkwürdige Zwitterstellung in der Musikgeschichte: Als Mozart starb, war er 7 Jahre alt, bei Haydns Tod 25, als er starb, wurde Richard Wagners "Tristan" uraufgeführt, Schubert, Mendelssohn und Schumann hatte er überlebt. Und dem gewaltigen Schatten Beethovens hatte auch er sich nicht entziehen können. Spohr hat sich mit allen auseinandergesetzt, alles Neue gefeiert und gefördert, auch noch Wagner, und einen durchaus eigenen "Sound" entwickelt. Man weiß seine Musik sofort zuzuordnen. Aber es gibt da einen merkwürdigen Zwiespalt: Hört man seine Stücke, ist man zunächst gefesselt. Geniale Themen, hochsensible und unverwechselbare Harmonik mit atemberaubender Chromatik - hier hat einer, so konstatiert man, seinen unverwechselbaren Weg gefunden. Aber dann, in der Fortführung der Themen, verliert sich alles in endlosem Figurenwerk. Irgendwie kommt ihm dabei meist der geniale Funke abhanden.

Warum also so viel des Aufhebens von einem Mann, der offenbar damals eine bedeutende Gestalt gewesen ist, aber uns heute nur noch mit ein paar Dutzend Werken fesseln kann? Ist da nicht mehr als das freilich wunderschöne Bild der Musikabende in Kasseler Bürgerhäusern, deren guter Geist er war, das Zeitbild vom genialen Geiger und Dirigenten einer vergangenen Epoche, vom mutigen Querdenker mit politisch revolutionären Idealen, dem aufrechten Charakter inmitten eines subalternen Hofstaates?

Da ist mehr. Spohr verstand nicht nur sein Orchester zu einem der angesehensten in Europa machen, es zu wahren Spitzenleistungen zu erziehen, wie wir von Berichten Reisender wissen, er war auch ein unermüdlicher Förderer der musikalischen Breitenwirkung, indem er aus dem Bürgertum heraus Chorvereinigungen gründete - etwa den Cäcilienverein - und mit diesen und dem Orchester die großen klassischen Oratorien aufführte, und das gegen den massiven Widerstand des Kurfürsten, der hier nicht ganz zu Unrecht republikanische Grundideen witterte.

Vor allem aber war er ein genialer Pädagoge in der Komposition, besonders aber im Violinunterricht. Über 200 Schüler hat er ausgebildet; sie kamen aus Deutschland, England, Dänemark, Norwegen, Rußland, Polen, Frankreich, Italien und sogar aus Amerika. Nach Abschluß ihrer mehrjährigen Studienzeit wirkten sie dann in ihren Heimatländern als Musikdirektoren, Kapell- und Konzertmeister und trugen den Glanz dieser "Kasseler Schule" in ihre Orchester. Unbestreitbar hat Spohr so unmittelbar niveaubildend gewirkt und vor allem in Deutschland zu jener engmaschigen Orchesterkultur beigetragen, auf die wir heute mit Recht stolz sind.

Was aber war dieses Eigene dieser "Kasseler Schule", wie sie in der Musikwissenschaft genannt wird? Fangen wir mit der musikalischen Ausbildung an: In einem Brief an den Vater seines Schülers Moritz Hauptmann - dieser wurde später Thomaskantor in Leipzig - heißt es am 15. April 1811: "Ich rechne ihm wöchentlich 4 Stunden zu geben, womit er eine tägliche Übung von 6 bis 7 Stunden verbringen muß. Nach diesem ist ihm nichts wichtiger als die Anfangsgründe der Komposition. Ein Virtuose, der im Stande ist, sich seine Solosachen selbst zu schreiben, hat einen unendlichen Vorteil vor solchen, die es nicht können und lauter bekannte Sachen spielen müssen." Alle Schüler hatten neben der Geige auch die Bratsche beherrschen zu lernen sowie zwei bis drei Blasinstrumente so gut zu spielen, daß sie notfalls im Orchester aushelfen konnten. Alle wurden sie bei den Musikabenden in Kasseler Bürger und Adelshäusern zur Kammermusik herangezogen: Klaviertrios, Streich- und Bläserquartette und -quintette. Friedrich Hoffmeister, der Freund eines der letzten Schüler Spohrs, des genialen Hugo Staehle, der 1848 in Kassel mit 22 Jahren starb, Hoffmeister also beschreibt die schon emanzipierte Form einer solchen Hausmusikidylle: Die Situation: Staehles Vater besaß einen Gartenpavillon an der Fulda, genauer auf der Fuldainsel Finkenherd. Dort trafen sich auf Anregung Spohrs seine Schüler, "dort", schreibt der Freund, "wurde nun eifrig an Staehles Oper "Arria" komponiert und bei festlicher Beleuchtung des kleinen Kronleuchters mehrmals wöchentlich Quartettmusik gemacht, wobei Staehle regelmäßig die Bratsche übernahm."

Nun zum komplementären Teil der Ausbildung: Im Gefolge der Aufklärung, des Humanismus und der Ideen Jean Jacques Rousseaus – „zurück zur Natur“ - hatte sich gegen Ende des 18. Jhs. in Mitteldeutschland eine pädagogische Bewegung entwickelt, der Philanthropinismus (oder Philanthropismus), also eine Lehre von der gelebten Menschenliebe. Sie hatte sich die freie Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit aufs Banner geschrieben, praktische Weltorientierung, Erlernung neuer, nicht primär der alten Sprachen, Förderung der Leibesübungen, Gemeinnützigkeit und Toleranz. Umgesetzt wurde diese Pädagogik gezielt an einigen Schulen, darunter der von Christian Gotthelf Salzmann in Schnepfenthal bei Gotha. Spohr, der schon in seinem Elternhaus in Braunschweig mit solchen Maximen erzogen worden war, begegnete nun diesen Ideen wieder in seiner Gothaer Zeit (1805-1813) im benachbarten Schnepfenthal. Er übertrug die Prinzipien der dortigen Lehrpläne auf die Ausbildung seiner eigenen Eleven. Sie mußten moderne Fremdsprachen lernen, er gab Geigenunterricht, so oft es ging, im Freien, damit sie der Natur näher seien, er machte mit ihnen Gymnastik und spielte Ball mit ihnen der Körperbeherrschung wegen, lehrte sie schwimmen, besuchte mit ihnen Fabriken und Bergwerke und wanderte weit hinaus in den Thüringer Wald, einmal sogar, im Sommer 1808, 14 Tage durch den Harz. Mit im Gepäck der kleinen Reisegruppe waren zwei Geigen, und der eben 24 Jahre alte Meister gab immer wieder Unterricht in ungezwungener Atmosphäre. Wer denkt da nicht an Eichendorffs Taugenichts? Viele von ihnen nahm er als Zöglinge im eigenen Hause auf, um ihnen menschliche Wärme in der Familie zu geben. Seine Frau, die glänzende Harfenistin und Pianistin Dorothea - genannt Dorette - Scheidler, war auch hier seine ideale Partnerin.

Die Musik als die intimste aller Künste, eine Kunst, die wie keine sonst das Göttliche in die Welt trägt, eine Kunst, die das Leben verändert, und die Musiker als Zeugen dieses Ziels, eines Ziels, das seine Schüler umsetzen sollten, dies sein Ideal. Und in der Tat haben, wie eingangs gesagt, viele seiner 200 Schüler überall in Europa, ja sogar in den Vereinigten Staaten, nicht nur die Kasseler Orchesterkultur abzubilden gesucht, sie waren Sendboten einer Musik, die sich nach Spohrs Ansicht nie im blanken Virtuosentum erschöpfen durfte, sondern mit Natur und Menschenbildung eine Einheit herstellen sollte. Wahrlich ein großes Erbe.

Aber ach, auch Spohr war ein Kind seiner Zeit und damit dem Zeitgeist untertan. Und da man keine Gelegenheit auslassen sollte zu zeigen, wie wir's so herrlich weit gebracht, zum Abschluß eine Episode aus seiner Autobiographie. Der alte Meister erinnert sich daran, wie er 1806 seine damals achtzehnjährige Dorette kennengelernt hatte: "Sie sprach mit großer Geläufigkeit italienisch und französisch und schrieb ihre Muttersprache correct und gewandt. Ihre Virtuosität auf Harfe und Pianoforte war schon damals, trotz ihrer großen Jugend, eine wahrhaft ausgezeichnete! Ja selbst im Violinspiel, worin sie ihr Onkel Preißing unterrichtete, hatte sie so viel Fertigkeit erworben, daß sie mit mir Viotti'sche Duetten spielen konnte. Da ich ihr aber rieth, dieses für Frauenzimmer unpassende Instrument nicht weiter zu üben und ihren Fleiß lieber ungeschmälert den beiden anderen zu widmen, so befolgte sie diesen Rath und gab es von da an auf."

Für Frauenzimmer unpassend? Überlassen wir es den jungen Künstlerinnen, uns vom Gegenteil zu überzeugen.

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